Einstiegsdroge
Der Begriff „Einstiegsdroge“ (engl. gateway theory) wird als Stichwort verwendet, wenn der Konsum einer Substanz mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zum Konsum von weiteren anderen (zum Teil härteren) Drogen führt.
Die Theorie der Einstiegsdroge beruht auf Beobachtungen, dass die Abfolge eines Erstkonsums von Drogen und dahingehend der Konsum weiterer Drogen nicht zufällig auftritt, sondern einem bestimmten Verlauf folgt. In Diskussionen steht häufig Cannabis im Zentrum, das angeblich den Grundstein für den späteren Konsum von härteren Drogen legen soll; aber auch Ethanol, also Alkohol, Nikotin und Koffein gelten bei vielen Autoren als Einstiegsdrogen.
Inhaltsverzeichnis
Geschichte und Begriffsherkunft
Seit dem Jahr 1975 wurden mehrere Längsschnittstudien zu dem Thema zeitliche Abfolgen des Erstkonsums von Drogen durchgeführt. Unter anderem wurde die Studie „Stages in adolescent involvement in drug use“ veröffentlicht. Die Professorin Denise Kandel, Leiterin der Abteilung Epidemiologie für Substanzmissbrauch am New York State Psychiatric Institute sowie weitere Kollegen riefen mit diesen und ähnlichen Forschungen intensive politische wie auch wissenschaftliche Diskussionen über die Möglichkeit der Ursachen hervor. Begriffe wie Trittstein-Theorie (engl. stepping-stone theory), Einfahrtstheorie bzw. Einstiegsdroge haben sich dadurch etabliert.[1][2][3]
Zusammenhänge
Die Ergründung der tatsächlich zugrundelegenden Ursache für die zeitliche Abfolge des Konsums von weiteren Drogen (nach des Erstkonsums) ist sehr schwierig und lässt höchstens Mutmaßungen zu, so sind zwei Haupt-Theorien zu möglichen Zusammenhängen entstanden.
Gewisse Studien gehen von der Theorie aus, dass die Ursache (für die zeitliche Abfolge des Konsums weiterer Drogen) in der Prägung des Gehirns begründet liegt – durch die Konsumation einer früheren Substanz. Ein anderer Ansatz erklärt die zeitliche Abfolge durch persönliche und soziale Faktoren.[4][5]
Biologische Prägungen
Bei dem Konzept der biologischen Prägung geht man davon aus, dass durch den Erstgebrauch einer Droge eine Prägung im Gehirn verursacht wird und damit ursächlich für den Konsum weiterer anderer Drogen ist.
In diversen Tierversuchen wurde getestet, ob durch den Gebrauch einer Droge die Attraktivität des Konsums von weiteren Drogen erhöht wird. Mit Mäusen als Versuchstiere konnte festgestellt werden, dass Nikotin den späteren Konsum von Kokain erhöht. In diesem Versuch konnte eine zugrundelegende molekular-biologische Veränderung im Gehirn festgestellt werden.[6][7] Man geht somit davon aus, dass der Konsum von Nikotin an eine erhöhte Wahrscheinlichkeit von Cannabis- und Kokain-Konsum gekoppelt ist.[8][9]
Persönliche & soziale Faktoren
Die zweite Theorie besagt, dass die Reihenfolge des Konsums verschiedener Drogen in persönlichen und umweltbedingten Faktoren begründet liegt – auch als drogenübergreifende Motivationslage (common liability) bekannt. Soziale und wirtschaftliche Bedingungen spielen bei diesem Konzept eine tragende Rolle.[10][11] Diese Theorie wurde mittlerweile durch eine große genetische Analyse gestützt, die einen genetischen Zusammenhang zwischen Cannabis-Gebrauch und Zigarettenrauchen untersuchte.[12]
Eine Studie mit Zwillingen kam allerdings zu dem Ergebnis, dass genetische und Umwelteinflüsse nur eine kleine Rolle bzw. möglicherweise nur bei manchen Konsumabfolgen, dies der Fall ist. Es wurden 219 niederländische Zwillingspaare getestet: jeweils einer hatte vor seinem 18. Lebensjahr Cannabis konsumiert, der andere Zwilling jedoch nicht. Bei denjenigen die vor dem Alter von 18 Cannabis konsumiert hatten, war die Wahrscheinlichkeit für den späteren Konsum von „Party-Drogen“ um das siebenfache erhöht; der spätere Gebrauch von „harten Drogen“ war um den Faktor 16 erhöht als bei letztgenannten. Die Forscher gehen aufgrund der Studienergebnisse davon aus, dass die verschiedenen Abfolgen zumindest durch genetische und auch soziale Einflüsse nicht erklärbar sind.[13]
Gesundheitspolitische Auswirkungen
Die erste Theorie beschreibt eine Prägung des Gehirns durch eine früher konsumierte Droge; so würde man der ursächlichen Wirkung dieser Droge große Bedeutung beimessen. Für diesen Fall wurde, als Maßnahme zur Risikobegrenzung, eine gezielte Auseinandersetzung mit der Droge selbst, vorgeschlagen. Beispielsweise durch eine Limitation des Zugangs – vor allem für Personen frühen Alters.[14]
Geht man von der letztgenannten Theorie, der drogenübergreifenden Motivationslage des Konsumenten als Hauptursache für den Folgekonsum von weiteren Drogen aus, wurden folgende Maßnahmen zur Risikobegrenzung als Vorschlag der International journal on drug policy eingebracht: Es soll eher die Ausgangslage von Personen (und dahingehend eine Aufklärung und Unterstützung persönlicher Entwicklung) ins Zentrum politischer Diskussion als die Eigenschaften einzelner Drogen gerückt werden.[15]
Verhaltensabhängigkeiten
Einige Autoren übertragen die Einstiegsdrogen-Hypothese auch auf den Bereich der Verhaltensabhängigkeiten, insbesondere auf den Medienkonsum. Sie gehen von einem Zusammenhang bei – als problematisch angesehenen Konsum von Medien aus – beispielsweise Pornografie oder Ego-Shooter finden sich in Diskussionen immer wieder.
Pornografie
Pornografie-Kritiker behaupten, dass der Konsum von „normalen“ Porno-Filmen auch als Art Einstiegsdroge gesehen werden muss und zu immer härteren Pornofilmen führen würde. Um der immerwährenden Steigerung des Erlebens gerecht zu werden, würden also die Konsumenten schlussendlich als Sexualverbrecher enden. Die PorNO-Kampagne forderte eine Verschärfung von Restriktionen von Pornografie. Obwohl eine weite Verbreitung von Pornofilmen über das Internet vorherrschend ist, wurde parallel eine Konstanz bzw. eine Abnahme von Sexualstraftaten beobachtet.
Killerspiele/Horrorfilme
Von einigen Autoren wird davon ausgegangen, dass Horrorfilme und auch Videospiele mit Gewaltszenen die Gewaltneigung erhöht und schließlich zu einer Erhöhung von Verbrechen führen würde.
Kritik an der Einstiegsdrogen-Theorie
Häufig wird an der Einstiegsdrogen-Theorie kritisiert, dass diese fast ausschließlich eine vergangene Betrachtungsweise von Menschen mit einer vernichtenden Drogenkarriere miteinbezieht. Erwiesenermaßen haben zwar die meisten Drogen-Abhängigen von etwa Kokain und Heroin zu einem früheren Zeitpunkt Cannabis konsumiert; umgekehrt haben allerdings nur die wenigsten Cannabis-Konsumenten die Erfahrung mit diesen „harten“ Drogen gemacht. Neben Cannabis gilt dasselbe für Ethanol (also Alkohol), Nikotin und Koffein; vor dem erstmaligen Gebrauch von Cannabis kommen Konsumenten in der Regel mit diesen legalen Drogen in Kontakt.
Studien zur Einstiegsdrogen-Theorie
In der Studie „Probability and predictors of the cannabis gateway effect“ wurde eine Stichprobe von 6624 Personen erhoben, die vor dem Konsum von Cannabis von keinen anderen illegalen Drogen Gebrauch gemacht hatten. Die Wahrscheinlichkeit des späteren Konsums weiterer illegaler Drogen wurde auf 44,7 % geschätzt. Die Höhe der Wahrscheinlichkeit wurde von persönlichen sowie sozialen Faktoren der Personen, wie etwa Herkunft, Urbanität, Bildungsabschluss aber auch Alter und Geschlecht beeinflusst.[15]
Die Untersuchung „Alcohol as a gateway drug: a study of US 12th graders“ in Amerika von ca. 14.500 SchülerInnen der 12. Klasse kam zu dem Ergebnis, dass es zu einer hohen Wahrscheinlichkeit einen Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und einem späteren Gebrauch von Tabak, Cannabis sowie anderer illegaler Substanzen gibt.[16]
Ebenfalls eine US-amerikanische Studie (Is cannabis use associated with an increased risk of onset and persistence of alcohol use disorders?) zeigte anhand von 27.461 Personen, dass diejenigen, die vor einem Cannabiskonsum keine Alkoholprobleme hatten, eine um den Faktor 5 erhöhte Wahrscheinlichkeit aufwiesen, nach einem Zeitraum von drei Jahren Alkoholprobleme zu entwickeln, als diejenigen, die kein Cannabis konsumiert hatten.[17]
Ist Cannabis eine Einstiegsdroge?
Die Theorie, dass Cannabis als Einstiegsdroge gilt, wurde allerdings durch zahlreiche Studien widerlegt. Etwa 2 bis 5 Prozent der Cannabis-Konsumenten steigen zu einem späteren Zeitpunkt auf harte Drogen um; das bedeutet, dass dies auf 95 bis 98 Prozent dieser Konsumenten nicht zutrifft.
Bereits im Jahr 1998 kam die von dem damaligen Bundesgesundheitsminister Seehofer (CSU) in Auftrag gegebenen Studie zu folgendem Ergebnis: „Die Annahme, Cannabis sei die typische Einstiegsdroge für den Gebrauch harter Drogen wie Heroin, ist also nach dem heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand nicht haltbar.“
Nach Einsicht wissenschaftlicher Literatur hat das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1994, die These Cannabis als Einstiegsdroge als „überwiegend abgelehnt“ bezeichnet.
Auch ein amerikanischer Bericht des „Institute of Medicine“ kam zu dem Schluss, dass Cannabis keine Einstiegsdroge sei. Auf etwa 80 Millionen Cannabis-Konsumenten kommen mehrere Hundertausend Konsumenten harter Drogen, was einem Verhältnis von 100 zu 1 entspricht.
Fazit
Zusammenfassend kann folgendes festgehalten werden: Forschungen über Cannabis als mögliche Einstiegsdroge sprechen eine deutliche Sprache: Komplexe Ursachen und Verläufe sind die Charakteristika für den Weg in den Drogenkonsum. Die überwiegende Anzahl der Studien geht davon aus, dass Cannabis nur ein Faktor von vielen verschiedenen ist und kann, auch laut aktuellen Ergebnissen, nicht als die Einstiegsdroge gewertet werden.
Weblinks
- https://de.wikipedia.org/wiki/Einstiegsdroge
- http://de.drogen.wikia.com/wiki/Einstiegsdroge
- https://hanfverband.de/nachrichten/blog/ist-cannabis-eine-einstiegsdroge
Einzelnachweise
[1] D. Kandel: Stages in adolescent involvement in drug use. In: Science. Band 190, Nummer 4217, November 1975, S. 912–914.
[2] K. Yamaguchi, D. B. Kandel: Patterns of drug use from adolescence to young adulthood: II. Sequences of progression.In: American journal of public health. Band 74, Nummer 7, Juli 1984, S. 668–672.
[3] D. Kandel, K. Yamaguchi: From beer to crack: developmental patterns of drug involvement. In: American journal of public health. Band 83, Nummer 6, Juni 1993, S. 851–855.
[4] A. R. Morral, D. F. McCaffrey, S. M. Paddock: Reassessing the marijuana gateway effect. In: Addiction. Band 97, Nummer 12, Dezember 2002, S. 1493–1504.
[5] D. M. Fergusson, J. M. Boden, L. J. Horwood: Cannabis use and other illicit drug use: testing the cannabis gateway hypothesis. In: Addiction. Band 101, Nummer 4, April 2006, S. 556–569
[6] E. R. Kandel, D. B. Kandel: Shattuck Lecture: A molecular basis for nicotine as a gateway drug. In: The New England journal of medicine. Band 371, Nummer 10, September 2014, S. 932–943.
[7] M. Yuan, S. J. Cross, S. E. Loughlin, F. M. Leslie: Nicotine and the adolescent brain. In: The Journal of physiology. Band 593, Nummer 16, August 2015, S. 3397–3412.
[8] K. M. Keyes, A. Hamilton, D. B. Kandel: Birth Cohorts Analysis of Adolescent Cigarette Smoking and Subsequent Marijuana and Cocaine Use. In: American journal of public health. [elektronische Veröffentlichung vor dem Druck] April 2016.
[9] S. Galea, R. Vaughan: A Public Health of Consequence: Review of the June 2016 Issue of AJPH. In: American journal of public health. Band 106, Nummer 6, Juni 2016, S. 973–974.
[10] M. M. Vanyukov, R. E. Tarter, L. Kirisci, G. P. Kirillova, B. S. Maher, D. B. Clark: Liability to substance use disorders: 1. Common mechanisms and manifestations. In: Neuroscience and biobehavioral reviews. Band 27, Nummer 6, Oktober 2003, S. 507–515.
[11] L. Degenhardt, L. Dierker u. a.: Evaluating the drug use „gateway“ theory using cross-national data: consistency and associations of the order of initiation of drug use among participants in the WHO World Mental Health Surveys. In: Drug and alcohol dependence. Band 108, Nummer 1–2, April 2010, S. 84–97.
[12] S. Stringer, C. C. Minică u. a.: Genome-wide association study of lifetime cannabis use based on a large meta-analytic sample of 32 330 subjects from the International Cannabis Consortium. In: Translational psychiatry. Band 6, 2016, S. e769.
[13] M. T. Lynskey, J. M. Vink, D. I. Boomsma: Early onset cannabis use and progression to other drug use in a sample of Dutch twins. In: Behavior genetics. Band 36, Nummer 2, März 2006, S. 195–200.
[14] Wayne Hall, Rosalie Liccardo Pacula: Cannabis Use and Dependence. Public Health and Public Policy. Cambridge University Press, Cambridge, UK, New York, USA, 2003, ISBN 978-0-521-80024-2, S. 111.
[15] R. Secades-Villa, O. Garcia-Rodríguez, C. J. Jin, S. Wang, C. Blanco: Probability and predictors of the cannabis gateway effect: a national study. In: The International journal on drug policy. Band 26, Nummer 2, Februar 2015, S. 135–142.
[16] Kirby, A. E. Barry: Alcohol as a gateway drug: a study of US 12th graders. In: The Journal of school health. Band 82, Nummer 8, August 2012, S. 371–379.
[17] A. H. Weinberger, J. Platt, R. D. Goodwin: Is cannabis use associated with an increased risk of onset and persistence of alcohol use disorders? A three-year prospective study among adults in the United States. In: Drug and alcohol dependence. Band 161, April 2016, S. 363–367.